Festvortrag: Die Nathaniel Freiherr von Rothschild’sche Stiftung für Nervenkranke in Wien
Zwischen privater Wohltätigkeit und öffentlicher Gesundheitsversorgung
Vortragende: Dr.in Verena Pawlowsky, Dr. Harald Wendelin (beide forschungsbüro.at)
Moderation: Direktorin Dr.in Brigitte Rigele
24. März 2022, 19:00, Wappensaal des Wiener Rathauses
Nach der Vollversammlung unseres Vereins sprachen Dr.in Verena Pawlowsky und Dr. Harald Wendelin in ihrem Festvortrag über Die Nathaniel Freiherr von Rothschild’sche Stiftung für Nervenkranke in Wien. Zwischen privater Wohltätigkeit und öffentlicher Gesundheitsversorgung.
Moderiert wurde der Vortrag von Archivdirektorin Dr.in Brigitte Rigele, die auch organisatorisch an der Erstellung des Berichts der Expert:innenkommission beteiligt war. Die Expert:innenkommission untersuchte nach einem Beschluss des Wiener Landtags vom 12. März 2020 im Auftrag der Geschäftsgruppen Soziales, Gesundheit und Sport sowie Kultur und Wissenschaft die Geschichte der Nathaniel Freiherr von Rothschild’sche Stiftung für Nervenkranke. Die Kommission bestand aus Univ.-Prof.in Dr.in Ilse Reiter-Zatloukal (Leitung), Mag. Dr. Gerhard Baumgartner, Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, Univ.-Prof. Dr. Roman Sandgruber und Dr.in Ulrike Zimmerl. Die Forschungsarbeiten leisteten die beiden Vortragenden. Seit 18. November 2021 liegen die Ergebnisse vor und können auf der Seite des Wiener Stadt- und Landesarchiv nachgelesen werden.
Verena Pawlowsky und Harald Wendelin erinnerten daran, dass die Gründung der Nathaniel Freiherr von Rothschild’schen Stiftung für Nervenkranke im Jahr 1907 in eine Zeit fällt, als das öffentliche Gesundheitssystem an der Schwelle zu einer Neuordnung stand. Von vielen Seiten wurde gefordert, die Gesundheitsversorgung auf eine neue finanzielle Basis zu stellen. Die Stiftung war mit 20 Millionen Kronen Wertpapierkapital außergewöhnlich hoch dotiert: Innerhalb weniger Jahre war es möglich, allein aus den Erträgen des Kapitals die erforderlichen Liegenschaften anzukaufen und darauf zwei Anstalten zu errichten.
Dennoch war die Stiftung lediglich zwei Jahre im Sinne des Stifters in Betrieb. Dann machten der Erste Weltkrieg und die massiven ökonomischen Probleme zu Beginn der Ersten Republik den Anspruch, mittellose Nervenkranke unentgeltlich zu versorgen, zunichte. Trotzdem konnte die Stiftung ihre Anstalten mithilfe von Verpflegsgebühren und dem Abschluss von Verträgen mit Krankenkassen bis 1938 weiter betreiben.
Der „Anschluss“ bedeutete aber dann das Ende der Stiftung. Noch vorhandenes Kapital wurde entzogen, Liegenschaften und Anstalten gingen an die Stadt Wien. Als die Stiftung 18 Jahre später wieder errichtet werden konnte, war der Schritt von der privaten Wohltätigkeit zu öffentlicher Gesundheitsversorgung definitiv vollzogen.
Der Vortrag schildert die wechselvolle Geschichte der Stiftung und ihrer Anstalten über zwei Weltkriege, Hyperinflation und Nationalsozialismus hinweg und analysiert sie vor dem Hintergrund der jüngsten rechtlichen Auseinandersetzungen sowie grundsätzlicher Verschiebungen im Gesundheits- und Sozialsystem des 20. Jahrhunderts.
Der Vortrag wurde aufgezeichnet und kann auf unserem Youtube-Kanal angesehen werden: Festvortrag: Die Nathaniel Freiherr von Rothschild’sche Stiftung für Nervenkranke in Wien
Bericht: Susanne Claudine Pils; Fotos: Christoph Sonnlechner
Abbildung: Rosenhügel, Luftaufnahme, ca. 1930 (WStLA, Postkartensammlung, FP1, 13. Bezirk)
Zur Person
Mag.a Dr.in Verena Pawlowsky, Historikerin, Forschungen und Publikationen zu den Themen Fürsorge, Arisierung/Restitution, NS-Geschichte von Institutionen, Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs, siehe: www.forschungsbuero.at
Mag. Dr. Harald Wendelin, Historiker, Forschungen und Publikationen zu den Themen Heimatrecht/Staatsbürgerschaft, Arisierung/Restitution, Sozialpolitik in der Ersten Republik, siehe: www.forschungsbuero.at
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